Der deutsche Psychoanalytiker Hanscarl Leuner (1919-1996) kon- zipierte in den fünfziger Jahren ein Verfahren, das er anfangs „Kata- thymes Bilder- leben“ (griech. kata = gemäß; griech. thymos = Seele), später „Katathym Imagi-native Psychotherapie“ nannte. Anfangs versuchte er, die Bedeutung tiefenpsycho-logischer Symbolik im Experiment zu bestätigen. Dabei wurde deutlich, dass sich in den katathymen Imaginationen therapeutische Prozesse bildhaft entfalten und therapeutisch wirksam sind. In tagtraumartigen Bildern können sich innere Gestimmtheiten und Konflikte ähnlich ausdrücken wie in Nachtträumen, mit denselben Möglichkeiten der symbolischen Verfremdung und Verdichtung.
Da die Imaginationen und Tagträume oft einen sehr dramatischen Charakter haben, wird in den angelsächsischen Ländern sowie in Holland und Schweden der Begriff „Symboldrama“ bevorzugt. Im angloamerikanischen Sprachraum ist die Bezeichnung „guided affective imagery“ gebräuchlich.
Das theoretische Konzept des Verfahrens wurzelt in der Psychoanalyse. Es geht von der Existenz unbewusster Motivationen und Abwehrvorgänge aus und nutzt die strukturgebende Funktion der Symbolgebung. Das Verfahren beruht auf dem psychologischen Prinzip der Projektion. Seine diagnostische Relevanz im Sinne des „experimentellen katathymen Bilderlebens“ wurde systematisch untersucht.
Unabhängig davon, ob Imaginationen spontan entstehen oder vom Therapeuten induziert werden, spiegeln sich in ihnen unbewusste Konflikte wider und äußern sich in Form tiefenpsychologisch verständlicher Traumsymbole. Es bestehen dabei enge Beziehungen zwischen den imaginierten Symbolen, den Emotionen und Verhaltensmustern im Traum.
Im Verlauf imaginiert der Klient auf Anregung des Therapeuten. Der Imaginierende berichtet während seines Tagtraumes die Szenerie und die begleitenden Gefühle gleichzeitig dem Therapeuten. Besonders hierdurch unterscheidet sich das Verfahren von anderen imaginativen Techniken. Durch den Bericht über das symbolhafte innere Geschehen ist der Therapeut in ganz besonders am inneren Prozess des Imaginierenden beteiligt. Dabei entwickeln sich Übertragungs- und Gegenübertragungs-phänomene analog zur tiefenpsychologisch fundierten Therapie. Die Analyse dieser Übertragungs- und Gegenübertragungsbeziehungen spielt in der „Katathym Imaginativen Psychotherapie“ keine so zentrale Rolle wie im analytischen Setting. Der Therapeut muss die Übertragungssituation zwar wahrnehmen und für sich verstehen, es ist aber nicht ständig Gegenstand der Bearbeitung und der Deutung. Das innere Drama des Klienten bildet sich überwiegend auf dem Projektionsschirm seiner Imaginationen ab, der ihm selbst und – über die Erzählung – auch dem Therapeuten sichtbar wird.
Um eine Vorstellung von der praktischen Arbeit zu haben hier ein kurzes Beispiel: Häufig wird der sogenannte „Blumentest“ durchgeführt. Nach einer kurzen Entspannungsphase (keine Hypnose!) wird dem Klienten vorgegeben: „Versuchen Sie bitte, sich einmal eine Blume vorzustellen.“ Nach kurzer Zeit wird spontan vor den Augen des Klienten eine Blume auftauchen und im Dialog mit ihm wird diese Blume genau beschrieben. Auch andere Gefühlsqualitäten, wie z.B. Farbe, Geruch, Anmutung werden erfragt, um so zu einem möglichst vollständigen Gesamteindruck zu kommen.
Der Klient spürt, dass diese Blume etwas mit ihm zu tun hat. Es gibt große und kleine Blumen, strahlende und unscheinbare, Blumen mit stabilem oder mit schwachem, stützungsbedürftigem Stil, verwurzelte und unverwurzelte, vital-üppige und halb vertrocknete, allein stehende oder in Gesellschaft wachsende. Was für eine Blume aus der Vielfalt der Möglichkeiten erscheint ist kein Zufall. Neben „Tagesresten“ bestimmen innere Affinitäten das Aussehen und die Ausstrahlung der vorgestellten der Blume. Indem der Klient die Blume auf sich selbst und seine aktuelle Situation bezieht, wird ihm das Wesen der Symbolisierung, von dem die KIP Gebrauch macht, deutlich. Alle zwei oder drei Sitzungen kann ein Tagtraum von 15 bis 25-minütiger Dauer stattfinden. Der Klient kann sich während der Imagination hinlegen oder auch sitzen bleiben. Wichtig ist nur, dass er sich entspannt auf seine inneren Bilder einstellt. Als Ausgangspunkt für die Imaginationen werden dem Klienten bestimmte ausgewählte Motive vorgegeben.
Die Imaginationen setzen direkt auf der unbewussten Ebene an, ein bewusstes intellektuelles Verstehen und Begreifen ist nicht unbedingt notwendig. Das Erleben dieser emotional besetzten inneren Bilder allein kann enorme psychische Veränderungen bewirken.
Die „Katathym Imaginative Psychotherapie“ kann bei Angstzuständen, Depressionen, psychoso-matischen Erkrankungen, Lebenskrisen, Beziehungsproblemen, bei der Bewältigung von körperlichen Erkrankungen sowie bei der Persönlichkeitsentwicklung helfen. Es können sowohl aktuelle Probleme und Themen als auch Ereignisse aus der Lebensgeschichte bearbeitet werden.
Die Methode wird für Erwachsene, Kinder und Jugendliche als Einzeltherapie angeboten (Kurzzeittherapie bis zu 30 Stunden; Langzeittherapie über 30 Stunden).
Bildnachweis: Christian König